WIE ALLES BEGANN
Mutter Elvira erzählt, wie alle begann:
Als Du das erste Mal an das Tor des Hauses in Saluzzo kamst, was ging Dir in diesem Moment durch den Kopf?
An diesen Tag erinnere ich mich genau: es war der 16. Juli 1983, Fest der Madonna vom Berge Karmel, ich hatte gerade die Schlüssel erhalten und wir konnten beginnen.
Als wir den Zustand des Hauses sahen, haben meine Begleiter die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen: es lag in Ruinen, ohne Türen und Fenster, das Dach musste komplett erneuert werden, es gab weder Betten noch Tische, Stühle, geschweige denn Töpfe, und ich hatte kein Geld….nichts! Ich habe in ihre verzweifelten Gesichter geschaut, doch ich sah schon, was noch alles passieren würde, ich sah das Haus schon so, wie es heute ist: wiederaufgebaut, schön und voll mit jungen Leuten! Es ist erstaunlich, wie mich der Heilige Geist unterstützt und aufgebaut hat! Ich habe mir ein großes Haus vorgestellt, in dem mindestens 50 Drogenabhängige leben konnten. Und nicht lange Zeit später waren die Zimmer zu meinem großen Erstaunen schon voll!
Und ich erlebte in mir den Kampf, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich sagte mir selbst, dass ich schon eine gute Schwester mit 50 Drogenabhängigen war. Doch das Leben forderte nach mehr und die Jugendlichen klopften weiter an. So eröffneten wir ein zweites Haus, und dann noch eins und noch eins, und irgendwann habe ich nicht mehr gesorgt, sondern die Madonna: Häuser im Ausland, hier und dort.
Warum hast Du den Name “Gemeinschaft Cenacolo” (Abendmahl) gewählt?
Ich wollte unbedingt, dass der Name etwas mit der Madonna zu tun hat. Also haben wir uns gefragt: Wo finden wir Maria in der Bibel? Ein Ort war der Abendmahlsaal, wo die Apostel sich in sich verkrochen und Angst hatten nach Jesu Tod – genauso geht es den Drogenabhängigen heute: sie sind schüchtern, ängstlich und stumm. Doch dann kommt mit Maria der Heilige Geist, der sie in mutige Zeugen verwandelt. So haben wir die Gemeinschaft “Cenacolo” genannt.
Wir bezeichnen uns auch gerne als eine Gemeinschaft von “öffentlichen Sündern”, die der Welt die unendliche und groβartige Gnade Gottes zeigen wollen. Das ist unsere Nachricht. Wir wollen diese lebendige Hoffnung einer Gnade sein, die immer gegenwärtig, immer aktiv und neu ist, in mir, in den Anderen, in allen.
Was die Eröffnung der Gemeinschaft angeht: Gab es da Schwierigkeiten?
Am Anfang waren überhaupt nicht alle glücklich darüber! Mir wurde oft “die Meinung gezeigt”, und einige haben mich nicht einmal mehr gegrüβt. Sie haben mit Abneigung gesagt: Drogenabhängige! Was macht diese Schwester mit Drogenabhängigen? Sie isst und lebt mit ihnen.
Es stimmt schon: ich habe keine Bildung, ich kenne keine anderen Sprachen… das ist mir bewusst. Aber das Schönste auf der Welt ist doch, sich selbst so zu akzeptieren, wie man ist. Gott kommt dann und denkt an den Rest. Hier habe ich gelernt, was Charisma ist, ein Wort, das ich nicht kannte: es ist etwas, was die anderen nicht verstehen können und was du selbst nicht verstehst. Doch du siehst, dass die Dinge, die du tust, auch dich in eine neue Richtung tragen. Und Schritt für Schritt erkennst du, dass Gott dich bestärkt und dich konkret in deinem Leben führt. Es ist nichts Berechnetes oder Geplantes, sondern auch eine Neuheit für dich.
Wie hast Du es geschafft, bei Null anzufangen, ohne Geld?
Anfangs haben wir viel Armut erlebt, da wir wirklich nichts besaβen auβer der Gewissheit des Vertrauens zu Gott. Ich erinnere mich, dass uns jemand einen Rasenmäher und alles Notwendige für die Herrichtung des Hauses gebracht hat: das war eines von vielen Zeichen der Vorsehung, das mir die Augen geöffnet hat für das Werk, welches Gott beginnen wollte.
Oft habe ich das “Gesicht verlieren” müssen: Einmal waren wir ohne Gas, und so bin ich mit dem Fiat 500 runter in den Ort zu einer Ausgabestelle gefahren. “Entschuldigen Sie, ich bräuchte eine Gasflasche. Aber ich habe leider kein Geld.” Die Verkäuferin entgegnete mir: “Aber wieso? Eine Schwester kann das nicht so machen! Was wollen Sie, der ganze Markt liegt darnieder, aus dem Ausland kaufen sie auch nichts mehr. Es sind schlechte Zeiten, Schwester, schlechte Zeiten.”
Und ich sagte: “Ist gut, macht nichts. Man hat mir gesagt, zu Ihnen zu kommen….aber trotzdem, ist egal.”
Also bin ich ins Auto gestiegen und wollte zu einem anderen Verkäufer weiterfahren. In diesem Augenblick ruft mir die Verkäuferin zu: “Schwester, Schwester, warten Sie, warten Sie einen Augenblick! Francesco, gib ihr eine Gasflasche, aber eine Kleine.” Als er sie mir ins Auto gelegt hatte, dankte ich ihr und sagte: “Gute Frau, wir beten für Sie!” Wir haben diese Gasflasche 15 Tage lang benutzt, bis auch diese wieder leer war. Da habe ich mir gesagt: ich gehe wieder zu ihr, ich habe da sowieso nichts mehr zu verlieren. Also bin ich dort hingefahren, und als sie mich gesehen hat, kam sie sofort auf mich zu und sagte: “Schwester, was haben sie angestellt? Es haben sich alle Türen zum Ausland geöffnet! Mein Bruder war da und es hat sich alles geklärt! Schauen Sie, Schwester, Ihnen wird es nie mehr an Gas fehlen!” Und so hat sie mir zwei groβe Gasflaschen gegeben, die nicht mal richtig ins Auto gepasst haben. Zu Hause angekommen, haben wir sofort die Gasflasche montiert und seitdem fährt ein kleiner Lastwagen immer dort hin, lädt einige Gasflaschen auf und fährt wieder los. Wenn du etwas im Namen des Herrn angehst, hast du eine Kraft, die nicht dir gehört. Und dir ist es vollkommen egal, wenn du “entblöβt” dastehst, dass du ausgelacht wirst oder dass sie dich zum Weinen bringen: selbst wenn sie mir Schläge erteilt hätten, hätte ich sie geduldet und hätte von vorn begonnen.
Woran erinnerst Du Dich noch aus den Zeiten des Anfangs?
An dem Tag, an dem ich verstanden habe, dass wir die Zigaretten abschaffen müssen! Es waren inzwischen ein paar Jahre vergangen, und ich war an dem Punkt angelangt, an dem mir dieser Gedanke gekommen ist: “Ich bin diesen jungen Leuten nicht treu! Sie wollen sich von den Drogen befreien, und ich lasse sie mit Tabak in der Tasche rumlaufen.” Da spürte ich dieses “Treiben” in mir, und ich konnte nicht mehr widerstehen. Also habe ich mich eines Abends, als wir in der Kapelle waren, vor sie hingekniet und ihnen gesagt: “Jungs, ich möchte Euch um Verzeihung bitten: Ihr seid hier hergekommen, um von den Drogen befreit zu werden. Und ich hatte Angst, dass ihr weggehen würdet, und habe euch das Rauchen erlaubt. Doch ab heute Abend wird in der Gemeinschaft nicht mehr geraucht! Dann habe ich “den Schlimmsten” zu mir gerufen, der immer um jeden Preis seine Zigaretten haben wollte und schon alles Mögliche angestellt hatte. Ihm habe ich gesagt: “Hole bitte eine Plastiktüte.” Alle Jungs saβen da, und er ging durch die Runde und jeder warf die Zigaretten, die er in der Tasche stecken hatte, in die Tüte. Dann habe ich gesagt: “Wenn jemand von euch gehen will und das zurecht, der klopfe im Büro an und wir geben ihm genug Geld, um nach Hause zu kommen. Wenn er dann akzeptiert hat, dass hier nicht mehr geraucht wird, kann er jederzeit zurückkommen, ohne vorher ein Gespräch führen zu müssen.”
Nun, wir haben ein groβes Feuer gemacht, doch keiner hat sich vom Fleck gerührt, und niemand ist weggegangen. Alle haben diese Regel sofort akzeptiert! Da sieht man wieder meine Ängste! Denn auch ich habe in diesem Moment gelitten, denn ich wusste, dass sie an “dieser Kippe” hingen. Da habe ich verstanden, dass es nicht stimmt, dass die jungen Leute faul, ängstlich und gleichgültig sind! All das stimmt nicht! Sie sind fähig zu kämpfen, bereit zu leiden und Opfer zu bringen! Die jungen Leute sind die schönste “Klasse” der Welt, mit denen es mir wahrhaftig gut geht. Ich kann aus Erfahrung sprechen, denn ich habe mir die Hände und das Gesicht, das Leben und den Ruf mit ihren Problemen “beschmutzt”, und nun kann ich über sie mit Unbefangenheit und Aufrichtigkeit sprechen. Sie wissen, dass mich nicht die Drogen interessieren, sondern das Leben! Heute spreche ich darüber, weil sie meine Lehrer waren und ich weiter von ihnen lernen möchte.
Wie hast Du es geschafft, die jungen Leute “von der Strasse” davon zu überzeugen, zu beten?
Die ersten Jungs, die hier angekommen sind, sind morgens aufgestanden und aufs Feld zum Arbeiten gegangen. Nach einem Monat hat sich einer von ihnen zu uns gesetzt, während wir beteten und gesagt: “Ich möchte auch das tun, was ihr macht.” Und so hat alles angefangen. Nach ihm sind auch die anderen, einer nach dem anderen, zum Beten gekommen. Das hätten wir nicht erwartet! Als sie dann aus freien Stücken zum Beten kamen, hat meine Seele Freudentänze gemacht!
Ich habe eine immense Dankbarkeit zu Gott erlebt, da er mir die groβe Freude gemacht hat, die jungen Leute, die soeben noch Sklaven des Bösen waren, mit uns beten zu sehen. Da habe ich verstanden, dass mich die Jugendlichen danach fragten, Gott zu begegnen; dass sie Hunger und Durst nach Ihm verspürten. So ist der Vorschlag des Gebetes und des Glaubens zur einer wesentlichen Säule auf dem Weg der Wiedergeburt geworden.
Was ist für Dich Glaube?
Für mich ist der Glaube die lebendige Begegnung mit einer Person, Jesus Christus. Er ist die Lösung all unserer Probleme. Und wir müssen den Mut haben, dies den jungen Leuten zu zeigen. Ich habe ihnen das vorgeschlagen, was mich gerettet hat: das Kreuz Christi, das Leben Christi, das heute lebendig ist. Die Türen für Christus zu öffnen heiβt, den Bruder, die Schwester, das Risiko, die Liebe einzulassen; dem Glauben zu öffnen, der manchmal so leuchtend ist, dass wir nichts sehen, noch verstehen.
Wie kann die Gemeinschaft einzig und allein durch die Vorhersehung leben?
Mir ist bewusst geworden, dass wir uns nicht auf die menschlichen Sicherheiten verlassen durften, die uns durch staatliche Hilfen und Kostgeldern der Eltern, die alles geben würden, um ihr Kind von der Drogenabhängigkeit zu retten, angeboten wurden. Mir ist klar geworden, dass ich die Liebe Gottes anbieten und totales Vertrauen zu Ihm haben musste. Deshalb war es notwendig, all das aus unserem Leben auszuschlieβen, was den Menschen falsche Sicherheiten gibt: das Geld.
Wenn du Geld hast, fühlst du dich stärker, mächtiger und manchmal auch anmaβend. So lebten die Jugendlichen, als sie viel Geld in den Taschen hatten. Geld ist für sie ein Ruf des Todes. Mit einem Drogenabhängigen kann man nicht auf eine theoretische Art und Weise sprechen. Besonders am Anfang ihres Weges können sie die Liebe Gottes nicht verstehen. Sie sehen nur deine Liebe. Dies war eine groβe Entscheidung der Freiheit, die die Gemeinschaft getroffen hat. Doch der wesentliche Grund war, den jungen Leuten zu zeigen, dass es Gott wirklich gibt, und dass Er ein Vater ist, der sich für seine Kinder interessiert und dass die Vorsehung Tag und Nacht über uns wacht. Und in all diesen Jahren kann ich euch dies mit Freunde bezeugen: die Vorsehung hat bei noch keinem Termin gefehlt!
Die Projekte für die nahe Zukunft?
Ich habe nie etwas geplant oder berechnet, noch habe ich etwas entschieden, was den weiteren Weg angeht. Ich habe auf das Leben gehört und in ihm den Willen Gottes für uns abgelesen. Nie und nimmer hätte ich gedacht, dass wir einmal so viele Häuser in verschiedenen Ländern eröffnen würden und dass sogar Missionen entstehen würden, deren erste Missionare die “wiedergeborenen” jungen Leute sein sollten.
Mir haben sich Familien, gottgeweihte Brüder und Schwestern, freiwillige Jugendliche angeschlossen, die frei und unentgeltlich ihr Leben schenken. Ich erlebe als Erstes das Staunen darüber, was der Herr vollbringt und wünsche mir nur eins: dass ich mich weiterhin Ihm anvertraue, ohne danach zu fragen, seinen Willen zu erkennen, bevor er sich verwirklicht.
Wir wollen Ihm dahin folgen, wo seine Hand uns hinführt, in der Gewissheit, dass Maria mit uns ist und dass Gott sich um uns sorgt!