CENACOLO AUS SICHT DER NEUROWISSENSCHAFT
Der bekannte Psychiater und Psychotherapeut Univ.-Doz. DDr. Raphael Bonelli aus Wien besuchte die Gemeinschaft Cenacolo. In der Sendung „Lebenshilfe“ in Radio Maria Österreich sprach er über seine Eindrücke.
Mit freundlicher Genehmigung von Raphael Bonelli geben wir die Abschrift der Sendung wieder.
“Als Psychiater bin ich natürlich verliebt in das Thema des menschlichen Scheiterns, weil ich viele Menschen bei mir auf der Couch sitzen habe, die von sich selbst sagen, dass sie gescheitert sind. Viele finden das schon ein Scheitern, wenn sie überhaupt mit mir reden müssen, das sehe ich nicht unbedingt. Aber das menschliche Scheitern ist ja etwas sehr Subjektives. Ich habe vor mehreren Sendungen eine Sendung über Medjugorje gemacht. Dort habe ich angedeutet, dass ich zwei tolle Erfahrungen gemacht habe. Einerseits das Beobachten einer Erscheinung und andererseits einen Besuch bei der Gemeinschaft Cenacolo. Damals habe ich angekündigt, nochmals eine Sendung über die Gemeinschaft Cenacolo zu machen. Jetzt wurde ich mehrfach angesprochen, wann denn die Sendung kommt. Das habe ich zum Anlass genommen, noch einmal ins Burgenland zu fahren und die Gemeinschaft Cenacolo in Österreich zu besuchen. Ich bin sehr bereichert zurückgekommen, und das soll das heutige Thema sein: Umgang mit dem eigenen Scheitern und die Gemeinschaft Cenacolo.
Viele Menschen haben heute panische Angst vor dem Scheitern! Ich habe in den letzten Tagen einen Patienten gehabt, der alles, was nicht so läuft, wie er es sich vorstellt, sofort als Scheitern sieht und dann gleich den Reflex hat: „Was denken jetzt die anderen von mir? Was ist jetzt mit mir?“ Und dann kreist er um sich selbst. Das ist ein Kind unserer Zeit. Der Mann ist 25 Jahre alt. Wir leben in einer perfektionistischen Gesellschaft, wo jeder einen einwandfreien Lebenslauf braucht. Ein Curriculum Vitae, das keine Makel hat. Hauptsache, die Fassade, die Oberfläche stimmt. Nur kein Scheitern! Wer scheitert, ist geliefert, der kann sich einfach vergessen. Die Gemeinschaft Cenacolo kümmert sich um die Menschen, die dann wirklich gescheitert sind und von dieser perfektionistischen Gesellschaft ausgestoßen werden. Und wir können viel lernen, jeder von uns kann viel lernen, von der Art, wie die Gemeinschaft Cenacolo mit den eigenen Schwächen umgeht.
Cenacolo ist eine Gemeinschaft, die 1982 von Schwester Elvira Petrocci, Mutter Elvira, wie sie genannt wird, gegründet wurde, und zwar nicht für irgendwelche Leute, sondern in erster Linie für Drogensüchtige, und auch andere Süchtige. Nun, ich habe einige Süchtige bei mir in Therapie, meistens Alkoholsüchtige, Drogensüchtige derzeit weniger, aber auch von ihnen habe ich im Laufe meines Lebens viele in Therapie gehabt. Zusammengefasst gibt es zwei Dinge, die man, glaube ich, bei fast jedem Suchterkrankten sagen kann: Menschen mit Suchtproblemen sind erstens wehleidig. Ich weiß nicht, ob sie zuerst wehleidig sind und dann süchtig werden oder durch die Sucht immer wehleidiger. Jedenfalls ist es meine Beobachtung, dass jeder, den ich gefragt habe: „Könnte es nicht sein, dass sie ein bisschen wehleidig sind?“, aus vollem Herzen geantwortet hat: „Ja, Herr Doktor, das stimmt, ich bin echt wehleidig.“ Und das Zweite, was noch viel schlimmer ist – sie sind leider oft gefangen in der Lüge, falsch, nicht in der Wahrheit. Und hier setzt Cenacolo an. Cenacolo ist eine Gemeinschaft von Gescheiterten, die aus dem Scheitern Frucht ziehen wollen. Es geht um ein fruchtbares Scheitern, oder darum, dass das Scheitern fruchtbar wird. Das ist ja auch genau die christliche Botschaft, dass man sagt: “Okay, ich habe das falsch gemacht, aber ich will es jetzt besser machen.”
Beim Besuch von Cenacolo wurde mir gesagt: „Einen jungen Menschen verwöhnen ist tödlich.“ Das ist eines der Zitate von Mutter Elvira. Also das sehe ich täglich in meiner Praxis, dass Menschen von ihren Eltern sehr verwöhnt worden sind, sehr verhätschelt. Heute spricht man von “Helikopter-Eltern”, weil sie wie ein Helikopter über dem Kind schweben, alles überwachen, auf alles aufpassen. Oder von “Curling-Eltern”, das ist auch ein ganz lustiger Ausdruck, den ich erst vor kurzem gelernt habe von einem “Curling-Kind”. Der hat mir gesagt: „Ich bin ein Curling-Kind, wissen Sie eh, was das ist?“ Und ich habe ihm gesagt: „Nein, keine Ahnung.“ Curling ist ein Sport, bei dem einer eine Scheibe auf dem Eis schießt und die anderen das Eis dann noch glatt polieren, damit das Geschoß ganz sanft seinen Weg findet. Und Curling-Eltern sind eben genau die, die den Weg polieren und vielleicht noch den roten Teppich ausrollen, bevor das (meist Einzel-) Kind dann die Bühne betritt, damit es ja nicht an einen Stein stößt. Solche Menschen enden häufig bei Cenacolo, weil sie scheitern, weil das wahre Leben nicht so einfach und widerstandslos ist. Das Anliegen von Cenacolo ist, die Menschen wieder von ihrer Sucht wegzubekommen. Und die Beobachtung der Leute im Cenacolo ist, dass die Gesellschaft zu weichlich ist.”
Also, im Cenacolo im Burgenland leben zur Zeit 41 Männer zusammen (es gibt Gemeinschaften von Männern und von Frauen), und diese Männer waren alle einmal süchtig. Auch der Leiter. Und er selbst, Georg, erzählt seine Geschichte sehr offen und sehr demütig, dass er 15 Jahre lang Alkoholiker war. Und vor 15 Jahren ist er zu Cenacolo gekommen und wurde dann eben von seiner Alkoholsucht befreit. Dann hat er sich entschieden, dort in der Gemeinschaft zu bleiben und den anderen so zu dienen. Heute leitet er die Gemeinschaft im Burgenland. Das heißt, alle sind Experten für Sucht, weil alle sie kennen. Kommt also jetzt ein Neuer, kennen sich alle aus. Dann wissen alle, wie er tickt. Und vor allem wissen sie, was er für Tricks hat um weiter zu trinken. Sehr häufig ist es ja in der Alkoholtherapie so, dass die Leute den Entzug durchmachen und parallel dazu weiter trinken. Das habe ich relativ häufig erlebt, weil die Lüge eben immer bei der Unehrlichkeit sich selbst gegenüber beginnt. Die Menschen betrügen in erster Linie mal sich selbst. Das ist das große Drama. Und hier setzt die Gemeinschaft Cenacolo an. Sie will die Schlauheit der Süchtigen nützen. Weil sie eben schlau sind und eine gute Sensibilität haben für alles, was so läuft. Sie beobachten sehr gut – und diese Schlauheit soll für das Gute umgepolt werden. Sie sollen sich gegenseitig helfen, den Entzug nicht abzubrechen, sondern durchzuhalten. Also: Diese 41 Männer leben zusammen, und jeder bleibt mindestens zwei, drei Jahre, manche sogar länger, um wirklich ganz wegzukommen von diesem katastrophalen und todbringenden Suchtverhalten, das sie vorher gehabt haben. Die meisten waren drogensüchtig, es gibt aber auch Alkoholiker, Spielsüchtige, Sexsüchtige, Internetsüchtige und so weiter. Und bei Cenacolo hat man ein ganz klares, geordnetes Leben, das die ganzen medialen Einflüsse, denen wir ausgesetzt sind, das bequeme Leben, reduziert. Das heißt, es gibt kein Fernsehen, kein Internet, kein Handy, keine Zigaretten und kein Fortgehen am Abend. In der Fastenzeit gibt es keinen Kaffee und nichts Süßes. Und jeden Freitag gibt es nur Tee und Brot. (Ich habe mir das alles aufgeschrieben, während ich dort war.)
Die Menschen, erzählt mir der Leiter, Georg, kommen kaputt dorthin. Sie können nicht „danke“ sagen, sie können nicht „bitte“ sagen, sie können überhaupt nicht mehr wertschätzen, was sie bekommen. Und dort beginnen sie ein neues Leben, in dem um sechs Uhr aufgestanden und erst mal eineinhalb Stunden gebetet wird, ein Tag mit einer klaren Struktur. Und dann hat jeder seine Aufgabe, das ist ganz, ganz wichtig, weil viele im Leben keine Aufgabe mehr bekommen haben, durch Hubschrauber- oder Curling-Eltern, die ihnen jeden Wunsch von den Augen abgelesen haben. „Die Burschen lernen hier „bitte“ und „danke“ zu sagen“, hat mir Georg gesagt. Sie lernen, ihre Wäsche selber, mit der Hand, zu waschen. Das ist ein Erfolgserlebnis, eine Motivation, weil Suchtpatienten oft keine Erfolgserlebnisse mehr haben. Wenn sie aber für sich selbst zu sorgen beginnen, haben sie dieses leere Wäschesackerl vor sich. Die Unmenge an Zuviel wird reduziert.
Die Mitglieder von Cenacolo haben nur das Nötigste. Sie haben so ungefähr drei Hemden und drei Unterhosen – die Details weiß ich nicht so genau. Jedenfalls haben sie einen ganz kleinen Spind, in dem sie ihre Sachen haben. Und sie leben von der Vorsehung. Niemand zahlt etwas, das ist revolutionär. So etwas kann sonst kein Drogenprogramm anbieten. Es ist keine Krankenkasse vonnöten. Es ist für sie und für den Staat gratis. Das bedeutet, andere Menschen helfen. Das Sensationelle aus wissenschaftlicher, aus psychiatrischer Sicht: 80% Erfolgsquote, wo wir normalerweise etwa 10% Erfolgsquote haben, bei einer normalen Therapie. Doch bei Cenacolo 80% Erfolgsquote! Und das glaube ich, seitdem ich dort war. Ich bin hingegangen und habe dort auch einen kritischen Blick als Psychiater hineingelegt. Und ich kann sagen, dass dort glückliche Menschen sind. Das sieht man an den Augen. Ich habe noch nie ehemalige Suchtpatienten gesehen, deren Augen so froh geleuchtet haben wie dort im Cenacolo. Nicht nur von einem, sondern eigentlich von allen. Mit einem unglaublich liebevollen Umgang miteinander. Hier haben wir das klassische verlorene Schaf, das zurückgekommen ist. Und das viel dankbarer ist als die 99 Gerechten, die nicht nötig hatten umzukehren. Die Burschen dort wissen genau, dass sie gescheitert sind und dass sie eben noch eine Chance bekommen haben durch Cenacolo. Und dass sie das diesmal nicht vergeigen wollen. Und wenn sie scheitern, können sie wieder zurück zu Cenacolo. Das ist das Tolle, die Türen sind immer offen.
Die Burschen von Cenacolo versorgen sich im Grunde selbst. Das heißt, sie arbeiten am Feld, im Wald. Sie haben einen Gemüseacker, dort gibt’s Verantwortliche, die das Gemüse ernten, das frieren sie für den Winter ein und konsumieren es dann gemeinsam. Georg hat mir eine berührende Geschichte erzählt: Einmal war der Kühlraum defekt, ein großer Raum, den ich auch gesehen habe, und 100 Kilo Gemüse waren dadurch kaputt. Dann haben 20 Jungs geweint. 20 erwachsene Männer haben geweint! Weil sie wahnsinnig viel dafür gearbeitet hatten und das dann alles auf dem Misthaufen entsorgt werden musste. Er sagt, das kann man nicht erklären, das muss man erlebt haben. Die Abhängigkeit des Menschen von dem, was der Acker hergibt. Heutzutage, sagt Georg, gehen die Leute in den Supermarkt, kaufen mal das und mal das, mit dem Geld der Eltern. Das heißt, man hat überhaupt keinen Bezug mehr. Wenn man dafür geschuftet und gerackert hat, dann ist das ganz etwas anderes.
Wie leben sie im Cenacolo? Ich habe schon gesagt, in der Früh eineinhalb Stunden Gebet. Insgesamt beten die Männer dort sehr viel. Sonst würden sie das nicht durchhalten. Das deckt sich auch mit wissenschaftlichen Studien, die sagen: Bei Suchterkrankungen ist der Faktor Religiosität eine sehr gute Prophylaxe. Das heißt, je religiöser einer ist, umso eher kommt er aus der Drogensucht heraus. Und es geht um die Wahrheit bei Cenacolo. Der Drogensüchtige muss in der Wahrheit leben. Nur die Wahrheit macht ihn frei. Aber, sagt Georg auch, nur die Wahrheit allein ist zu brutal. Die Wahrheit muss mit der Barmherzigkeit kombiniert sein. Das Scheitern wird abgefangen durch einen liebevollen Umgang miteinander. Begonnen hat das mit Mutter Elvira, die eben sehr liebevoll und respektvoll mit diesen Menschen umgegangen ist, die scheinbar keinen Respekt mehr verdienten.
Und wie ist das Leben des Einzelnen bei Cenacolo? Das Leben im Einzelnen ist so, dass der eine auf den anderen aufpasst. Wenn einer neu kommt, bekommt er einen so genannten Schutzengel, das ist auch einer, der bei Cenacolo lebt, ein ehemaliger Süchtiger, der eben das alles schon durchgemacht hat, der den Neuankömmling ganz eng betreut. Sie machen alles gemeinsam. Und der eine passt auf den anderen auf. Dann gibt’s noch die Revisione di Vita, das heißt, hier sagt jeder alle zwei Wochen im kleinen Kreis von sechs bis acht Leuten, wie es ihm wirklich geht. Der Sinn davon ist, dass man lernen soll, seine Seele zu öffnen. Und das Tolle ist, dass danach alle anderen sagen, wie sie ihn sehen. Hier haben wir die Gelegenheit, das Selbstbild, das ein Mensch von sich produziert, zu korrigieren und anzupassen an das Fremdbild. Wenn einer sagt: „Mir geht’s super und alles ist toll“, und dann kriegt er aber das Feedback: „Ich erlebe dich soundso“, „Du machst hier ein unfreundliches Gesicht“, „Da hast du nicht geholfen“, dann ist das sehr hilfreich. Einmal im Jahr gibt’s auch eine positive Feedback-Runde, aber normalerweise ist es eben ein Anpassen des Selbstbildes an das Fremdbild, sodass ein objektives Bild von sich entsteht, weil der Suchtpatient im Normalfall eben nicht mehr in der Wahrheit verankert ist und ein Bild von sich hat, das überhaupt nichts mit der Realität zu tun hat. Das halte ich für eine ganz, ganz sinnvolle Einrichtung, wenn das respektvoll geschieht, und davon gehe ich jetzt mal aus. Daraus entsteht dann eine Aufgabe. Die anderen geben dem Betroffenen dann eine Aufgabe. Sie sagen: „Also, wir glauben, du solltest dich die nächsten zwei Wochen besonders in dem und dem Bereich bemühen, weil du da noch wachsen kannst.“ Und wenn die anderen ihm das Feedback geben, dann darf er nicht zurückreden, sondern muss sich das in Ruhe anhören, darüber einmal nachdenken und es wirken lassen. So wachsen die Burschen in die Wahrheit hinein und lernen, wahrhaftig zu sein. Das haben wir in dieser perfektionistischen Zeit verlernt.
Wir leben in einer Zeit, in der alle ihre Masken aufhaben. Mascherone ist das italienische Wort für Maske, das wird bei Cenacolo verwendet. Das ist eben dieses ständige Lügen, das Maskenaufsetzen. Und wenn man eine Maske ablegt, nimmt man sofort eine andere auf. Diese Mascherone muss weg. Wir müssen uns zeigen, wie wir wirklich sind. Und hier ist die Lehre von Cenacolo für uns alle. Also, der Leiter von Cenacolo sagt mir, es gibt einen großen Wunsch in den Burschen, wahrhaftig zu leben. Alle wünschen sich eine gute Frau, wollen ein Leben lang treu sein und wollen es anders machen. Sie wollen für die anderen leben. Was auch als Psychotherapeut sehr interessant ist zu sehen, ist das Prinzip dort: “Nicht von der Vergangenheit reden, nicht in der Vergangenheit hängen.” Die Aufforderung an die Neuen ist: “Mach einen dicken Strich, du kannst eh nichts ändern. Übergib es dem Herrn.” Das ist ganz wichtig. Also nicht: “Verdräng es!”, sondern: “Übergib es dem Herrn!” Und oft beobachtet man dann angeblich in der Anbetung – sie beten nämlich viel an – eine Aufarbeitung im Sinn von plötzlichem Weinen, von Reuetränen. Weil sie plötzlich merken: “Um Gottes Willen, das und das habe ich getan.” Aber sie ziehen sich nicht gegenseitig runter. Das heißt, es ist ein Tabu, von den Drogen zu reden und auch negativ von Frauen zu reden, im Sinne von Sexualobjekten. Beides tut dem Menschen nicht gut.
Bei Cenacolo ist es ganz klar, was auch sonst gilt: Die Volkskrankheit Nummer eins ist der Stolz. Und Georg sagt, dass Drogensüchtige extrem stolz sind. Und wer extrem stolz ist, hat natürlich extrem viele Masken. Der Stolz ist wie ein Bart: Er wächst immer wieder nach. Also, man reduziert den Stolz, vielleicht durch eine Revisione di Vita, da kriegt man ein Feedback der Realität, dann wächst der Stolz langsam wieder nach. Und das ist eine Lehre, auch für alle Verheirateten. Dass man sich in Demut seinem Bart immer wieder zuwendet. Und auch seine Makel darstellt. Eine Ehe, in der sich jeder dem anderen immer nur perfekt und fehlerlos präsentiert, geht auf Dauer nicht gut. Weil wir das nicht sind. Der Stolz lügt eben. Der Stolz führt zur Lüge. Und wenn wir diese Realität des Gescheitert seins annehmen, dann haben wir schon viel gewonnen.
Eine weitere Tradition bei Cenacolo ist, dass einer am Abend das Tagebuch des zu Ende gehenden Tages schreibt und es am nächsten Morgen vorliest. Das ist deswegen gut, weil das sofort korrigiert und er so in die Realität zurückgeholt wird. Wenn er etwa sagt, der gestrige Tag war so und so, und es war nicht viel los, dann wird ihm vielleicht gesagt werden: “Du, hast du nicht gemerkt, dass der dort und dort hin gegangen ist, und siehst du nicht, dass…?”. Einerseits lernt man so mehr Sensibilität und andererseits wird man in die Wirklichkeit zurückgeholt.
Das Letzte, was ich noch berichten möchte von Cenacolo, und was sehr viel mit uns allen zu tun hat, ist das, was man bei Cenacolo den „Kompromiss“ nennt. Kompromiss ist, wenn einer, versteckt vor der Gemeinschaft und oft auch vor sich selbst, etwas anders tut, als es ausgemacht war: zum Beispiel heimlich zum Kühlschrank zu gehen – denn dann schädigt man irgendwie die ganze Gemeinschaft -, oder auch eine Zigarette zu rauchen. Also wenn jemand etwas heimlich macht, dann geht’s nach unten. Georg sagt, er merkt ganz genau, wenn es mit jemandem bergab geht; er hat dann meistens einen geheimen Kompromiss mit irgendetwas gemacht, und ein Erfolg ist es, wenn er das plötzlich offenlegt. Beim Abendessen gibt’s die Möglichkeit, dass einer aufsteht und sagt: „Liebe Leute, es tut mir leid, ich habe einen Becher zerbrochen, weil ich unachtsam war, oder schlampig, oder weil´s mir egal war”, oder so irgendetwas, und “Ich möchte mich bei euch allen entschuldigen.“ Auch das ist ein Zurückführen in die Wahrheit. Wir wissen ja, dass es Menschen gibt, die sich ein Leben lang noch nie entschuldigt haben. Ein Leben lang nie entschuldigt haben! Spätestens bei Cenacolo kann man das lernen. Das heißt, es ist ein Erfolg, wenn jemand bei Cenacolo seinen Kompromiss offenlegt. Dann geht’s wieder bergauf. Es gibt auch, zu Ostern und zu Weihnachten, eine Kompromissrunde, bei der zweimal zwanzig Burschen in einer Runde sitzen. Da ist es dann ganz still, das provoziert sie dann vielleicht doch rauszukommen mit einem kleinen Kompromiss, den sie gemacht haben. Einen Kompromiss mit der Lüge. Und danach kommt es zu einem euphorischen Freudenlied, weil dann alle wirklich ganz, ganz frei sind.
Zweimal pro Woche kommt ein Priester, bei dem dann etwa zehn von den vierzig Burschen beichten. Das heißt, für Seelenwäsche ist also auch gesorgt.
Insgesamt finde ich die Gemeinschaft Cenacolo aus psychiatrischer Sicht sensationell. Mit unglaublichen Erfolgen, die sonst keine Suchtorganisation anbieten kann. Keine Therapieeinrichtung kommt auch nur im Entferntesten an diese Erfolgszahlen wie Cenacolo.
Der Grund ist der, den ich jetzt zu erläutern versucht habe. Und ich glaube, dass das eine Lebensschule ist und auch eine Lehre für uns alle, die wir, jedenfalls die meisten von uns, wahrscheinlich Cenacolo nicht unmittelbar brauchen.”
Univ.-Doz. DDr. Raphael Bonelli, geboren 1968 in Schärding, ist Neurowissenschaftler an der Sigmund Freud Privat Universität Wien sowie Psychiater und systemischer Psychotherapeut in eigener Praxis. Als Autor wissenschaftlicher Publikationen beschäftigt er sich mit dem Grenzbereich zwischen Neurologie und Psychiatrie und untersucht die meist positive Wirkung der Religiosität auf die menschliche Psyche aus empirisch-naturwissenschaftlicher Sicht.
(Quelle: Wikipedia)
INTERNET
Website: http://www.bonelli.info
Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Raphael_M._Bonelli