MENSCHEN, DIE OHNE HOFFNUNG WAREN, FINDEN ZU EINEM LEBEN IN FÜLLE
Dr. Christian Stelzer lebt als Familienvater und praktischer Arzt in Wien und leitet als Obmann den Förderverein „Freunde der Gemeinschaft Cenacolo“.
Das Haus „Mutter der guten Hoffnung“ der Gemeinschaft Cenacolo im burgenländischen Kleinfrauenhaid feiert in diesem Jahr sein 20-jähriges Jubiläum. Ich erinnere mich noch genau an die Eröffnungsfeier am 7. September 1997 – der Hof vor dem niedrigen Eingang ins ehemalige Wirtschaftsgebäude des Pfarrhauses, der ab jetzt jungen Menschen Zuflucht und Herberge bei ihrem Weg aus Krisensituationen werden sollte, war voller Besucher, die zum Teil von weit her gekommen waren. Msgr. Dr. Ernst Pöschl segnete in Vertretung von Diözesanbischof Paul Iby, der nach einer Operation im Wiener AKH lag, die neu adaptierten Räumlichkeiten und die Kapelle, die sich jetzt an der Stelle befand, wo früher einmal der Kuhstall war.
Viele Besucher wurden berührt von der Feier und den Liedern der Cenacolo-Burschen, wobei ich mich besonders an einen Gast erinnere, der ganz hinten, knapp vor der Mauer aus roten Ziegelsteinen, gestanden war und uns anschließend seine Hilfe anbot. Es war der zuständige Bezirkshauptmann Dr. Günter Engelbrecht, der uns in den folgenden Jahren mit Rat und Tat zur Seite stehen sollte.
Dass die Niederlassung der Gemeinschaft Cenacolo im burgenländischen Kleinfrauenhaid überhaupt zustande kam, grenzt an ein Wunder, oder besser gesagt, ist das Ergebnis vieler Wunder. Eines davon war für mich meine erste Begegnung mit Mutter Elvira. Ich hatte sie in Medjugorje wiederholte Male von der Ferne gesehen, immer umgeben von „ihren“ Burschen, einmal sogar in der Küche von Marija Pavlovic aus nächster Nähe. Schon viele wunderbare, fast unglaubliche Geschichten hatte ich über sie gehört, wie sie jungen Menschen mit ihrem einfachen Lebenskonzept, vor allem aber mit ihrem Glaubenszeugnis aus der Drogensucht herausgeholfen hatte. Als Arzt, der oft mit Drogenkranken konfrontiert ist, interessierte mich ihr Erfolgsprogramm natürlich sehr.
Im Sommer 1993 besuchte ich das Jugendgebetstreffen in Medjugorje. Es fand in dem kleinen Park nahe der Kirche, unmittelbar beim Kreisverkehr statt. Mutter Elvira begeisterte die Jugendlichen, sodass am Ende ihres Vortrages keiner mehr auf seinem Platz sitzen blieb, sondern alle tanzten, in die Hände klatschten und sangen. An diesem Tag war es fast unerträglich heiß und P. Slavko, der neben Mutter Elvira stand, dürfte gemerkt haben, wie sie plötzlich einen Schwächeanfall erlitt. „Ist hier ein Arzt?“, rief er ins Mikrophon. Ich rannte seitlich nach vorne bis hinter die Bühne, wo gerade zwei Burschen Mutter Elvira herunter begleiteten. In diesen Moment kollabierte sie und landete in meinen Armen. Ich setzte mich auf einen Stein und hielt sie einfach. Nach einigen Sekunden öffnete sie die Augen und sah mich zuerst verwundert, dann durchdringend an. „Wer bist du“, hörte ich sie fragen. „Dottere“, antwortete ich in miserablem Italienisch. Ich hatte weder Blutdruckmesser, noch Stethoskop bei mir. Ihr Puls fühlte sich voll und rhythmisch an. Brustschmerzen verspüre sie keine, antwortete sie auf meine Frage. Es schien ein Schwächeanfall gewesen zu sein, wegen der Hitze und der Anstrengung. Jemand reichte ihr Wasser zu trinken. Mutter Elvira fühlte sich bald kräftig genug, um in Begleitung einiger Burschen zu Fuß den kleinen Park zu verlassen.
Als ich etwas mehr als zwei Jahre später mit einer Pilgergruppe die Cenacolo-Niederlassung „Campo della Vita“ in Medjugorje besuchte, waren meine beiden Reisebegleiter Msgr. Josef Hirschl und Baumeister Karl Schiller spontan begeistert von der Idee, auch in Österreich ein Haus für Cenacolo zu eröffnen und beauftragten mich, bei Mutter Elvira vorzusprechen. Sie erkannte mich gleich wieder: „Dottere“, sagte sie lachend zu mir. Noch mehr freute es sie, als sie an meiner Seite Marija, meine Verlobte sah, die sie weit länger als mich kannte. Ohne viel zu fragen willigte Mutter Elvira ein, mit der Gemeinschaft nach Österreich zu kommen, sobald wir ein passendes Haus gefunden hätten. Mir war damals nicht bewusst, welch großes Vertrauen sie uns entgegengebracht hatte, denn erst später erfuhr ich fast zufällig, dass die Gemeinschaft laufend von Medjugorje-Pilgern aus vielen Ländern eingeladen wurde, Niederlassungen zu eröffnen, dies aber immer wieder ablehnen musste.
Zurück in Österreich machte ich mich mit meinen Freunden sofort auf die Suche nach einem Haus. Bald mussten wir feststellen, dass dies deutlich schwieriger war, als wir gedacht hatten. Denn wenn wir ein passendes Objekt gefunden hatten, das unseren Vorstellungen entsprach, begann sich auch schon Widerstand unter den Anrainern gegen die künftigen drogenkranken Nachbarn zu formieren. Eigentlich war es nicht verwunderlich, dass die Menschen, die die Gemeinschaft Cenacolo nicht kannten, Ängste vor Drogensüchtigen, die jetzt ins Dorf kommen sollten, äußerten. Dass Drogenkranke in der Gemeinschaft völlig anders lebten, als wir es sonst kennen, musste man erst mit eigenen Augen erlebt haben, um es zu glauben.
An einem Novemberabend im Jahr 1996 erhielt ich einen Anruf von Pfarrer Johannes Lehrner aus Kleinfrauenhaid. Johannes erzählte mir von einem unbenützten Wirtschaftstrakt am Ende seines Pfarrhofes und schlug mir vor, ihn zu besichtigen. Sein Angebot für die Gemeinschaft klang sehr ermutigend. Wir kannten einander schon lange und ich wusste, dass er für den Fall, dass wir die Räumlichkeiten für geeignet fänden, zu seinem Wort stehen würde, auch gegen die Widerstände in der Bevölkerung, die vermutlich bald einsetzen würden.
So rief ich meinen ehemaligen Mitpilger Karl Schiller an, der Chef einer angesehenen Baufirma ist. Karl kannte das Gebäude und sagte mir schon am Telefon, dass die Räume geeignet wären für den Beginn der Gemeinschaft. Mit seiner Hilfe adaptierten wir das Gebäude – ein Raum mit Gewölbe im Erdgeschoss wurde zum Speisesaal, im ersten Stock entstanden zwei Schlafräume und gleich beim Eingang ging es in die Kapelle. In diesem Gebäude sollten in den folgenden Jahren bis zu 20 junge Menschen dauernd Unterkunft finden. Für viele von ihnen war Cenacolo die letzte Rettung aus Drogen- und Alkoholabhängigkeit und der Beginn eines neuen Lebens.
Mit Hilfe von Monsignore Josef Hirschl, der als Priesterpersönlichkeit in der Diözese Eisenstadt bekannt und hochgeschätzt ist, konnten wir schnell weitere Priester und selbst den Diözesanbischof Dr. Paul Iby für unser Projekt gewinnen. Die geistliche Betreuung der jungen Menschen war immer ein zentrales Anliegen von Mutter Elvira. Die Burschen sollten die Möglichkeit haben, mit einem Priester zu sprechen und das Sakrament der Versöhnung zu empfangen, und natürlich auch gemeinsam die hl. Messe zu feiern.
Die schöne Gestaltung der Kapelle war uns deshalb ein besonderes Anliegen. Wir wussten, dass die Burschen auch in der Nacht beteten, und so installierten wir eine Fußbodenheizung an der Stelle, wo bisher nur ein gestampfter Lehmboden war. Als dann die ersten Burschen ankamen, erlebten wir bald einen Schreck. Marco, der früher Maurer war, wünschte sich, eine Wand der Kapelle zu entfernen und berichtete detailgenau, wie er das angehen würde. Mit Hilfe von Karl war es bald möglich, von der Kapelle direkt in den Garten zu blicken. Die neue Glaswand wurde mit kleinen, bunten Glassteinen verziert und in der Mitte wurde eine runde Ikone angebracht: die Gottesmutter, mit Jesus im Herzen, und im Herzen Jesu der Tabernakel. Viele Menschen, die in den folgenden Jahren in die Kapelle kamen, waren fasziniert von deren Schönheit. Das Wichtigste aber waren die vielen Heilungen des Herzens, die hier geschahen.
Heute ist die Gemeinschaft Cenacolo im burgenländischen Kleinfrauenhaid 20 Jahre alt. Am Beginn waren wir alle erfüllt vom Wunsch, den jungen Menschen, die hierher kommen, ein warmes Heim zu bereiten, wo sie jene Geborgenheit finden, die sie vielleicht früher immer gesucht hatten. Und wir wurden für unseren Einsatz reichlich belohnt durch die Freude, die uns jedes Mal erfüllt, wenn wir ins Cenacolo kommen und sehen dürfen, wie hier Menschen, die ohne Hoffnung waren, zum Leben in Fülle zurückfinden.