„DIE UMARMUNG“ – DIE GESCHICHTE DER GEMEINSCHAFT CENACOLO
Ein großes Geschenk der Vorsehung Gottes haben wir in diesen Tagen empfangen: Das neue Buch unserer Mutter Elvira ist in deutscher Übersetzung erschienen. Es heißt „Die Umarmung“ und Mutter Elvira erzählt darin neben ihrer eigenen Lebensgeschichte vor allem die Geschichte unserer Gemeinschaft Cenacolo, die den Leser immer von neuem zum Staunen bringt. Der Titel des Buches spielt an auf den Rat, den Mutter Elvira allen Burschen und Mädchen gibt, die zum ersten Mal auf ihrem Weg in der Gemeinschaft für einige Tage ihre Familie zu Hause besuchen:
Diese Zeit der Prüfung, die man zu Hause verbringt, nachdem man ein Stück des Weges zurückgelegt hat (wir nennen sie Verifica), ist immer ein wichtiger Augenblick für die Jugendlichen, die in der Gemeinschaft Cenacolo Hilfe zu suchen, um »zu einem neuen Leben aufzuerstehen«.
Auch die familiären Beziehungen, die in den Herzen oft tiefe Wunden hinterlassen haben, müssen erneuert werden, und die Verifica hilft dabei.
»Geh nach Hause«, sage ich zu ihnen, »und wenn du deinen Vater von Weitem siehst, dann lauf, lauf, lauf ihm entgegen. Und dann wirfst du dich in seine Arme und umarmst ihn, umarme ihn ganz fest. Und während du ihn umarmst, musst du, ohne loszulassen, bis sieben zählen. Eins … zwei … drei … vier … fünf … sechs … sieben. Nach einigen Sekunden wirst du spüren, dass er versucht, die Umarmung zu lösen; aber dann hältst du ihn nur noch fester, und dann wird auch er dich fest umarmen. Und dann, nach diesen sieben Sekunden, lässt du ihn los und blickst ihm in die Augen. Dein Vater wird weinen. Du wirst weinen. Alle werden weinen. Und du wirst aus diesem Mann wieder einen Vater gemacht haben.«
In diesen sieben Sekunden hält man inne und man wird sich der Erlebnisse und vor allem der Fehler der Vergangenheit bewusst. Man umarmt so die eigene Geschichte, die eigenen Wurzeln, die eigene Heimat. Diese Geste dringt tief ins Herz, ins Innerste, und löst die schlimmsten Verhärtungen. Und sie lässt Frieden zurück – den Frieden, der aus der Vergebung erwächst.
Das ganze Buch – aufgeteilt in sieben Kapitel – ist eine Umarmung auch für den Leser, der mit reichen Früchten der lebensfrohen und Mut machenden Spiritualität Mutter Elviras beschenkt wird:
“In all unseren Häusern sehen wir staunend, wie junge Menschen aus vielen Ländern der Erde miteinander beten und so einander verstehen, einander vergeben und friedlich zusammenleben; jeden Tag machen sie gemeinsam einen Neuanfang auf ihrem Weg der Erneuerung.”
“Das Leben ist uns geschenkt worden, ohne Bedingung. Das ist die erste Berufung, die es zu leben gilt: das Leben als Geschenk der Liebe Gottes anzunehmen.”
“Es ist wunderbar, dass die Jugendlichen, die selbst von der Liebe Gottes gerettet wurden, nun in der Lage sind, anderen zu helfen, an die rettende Liebe Gottes zu glauben!”
“Ich habe nie Pläne für die Zukunft geschmiedet, doch möchte ich die Tür des Herzens, die Tür der Liebe, immer weiter öffnen, um die ganze Menschheit zu umarmen und um alle aufzunehmen, die noch immer verloren und einsam sind.”
“Gott ist die Liebe, die wir schon immer suchten. Gott ist die unendliche Liebe, die niemals endende Umarmung.”
„Die Umarmung“ ist ein wunderbares Buch, das wir allen Cenacolo-Freunden und allen, die auf der Suche nach einer konkreten, lebensfrohen und optimistischen Spiritualität sind, von ganzem Herzen empfehlen können.
Sie können „Die Umarmung“ von Mutter Elvira gerne bei uns bestellen:
Gemeinschaft Cenacolo
Kleinfrauenhaid 18
7023 Zemendorf-Stöttera
02626/5963
Viel Freude beim Lesen!
Begonnen haben wir in einem Haus auf dem Hügel oberhalb der Stadt Saluzzo; es war uns von der Gemeinde kostenlos zur Verfügung gestellt worden. Ich war früher schon einmal in Saluzzo gewesen: Die Barmherzigen Schwestern führten den dortigen Kindergarten Regina Margherita, und so hatte ich die Stadt bereits kennengelernt. Ich wusste von dem leer stehenden Haus auf dem Hügel, das der Stadt gehörte und für soziale Zwecke bestimmt war.
Ich fragte an, ob ich es bekommen könne, um darin junge und bedürftige Menschen aufzunehmen, und die Stadt war so mutig und großzügig, das Projekt zu genehmigen. Am 16. Juli 1983, dem Tag, an dem die Kirche Unserer Lieben Frau auf dem Berge Karmel gedenkt, war es soweit: Ich bekam ich die Schlüssel und konnte anfangen.
Als ich sah, wie sich das Gittertor öffnete, atmete ich tief durch, weil ich so erleichtert war. Ich erinnere mich, dass ich in meinem Inneren gleichsam vor Freude getanzt habe!
Plötzlich brach die Fülle des Lebens aus mir heraus; die begeisterte Freude nach der langen Zeit des Wartens: Endlich wurde aus der Sehnsucht Wirklichkeit. Ich weiß noch, wie mein Blick zwischen Schutt und Dornensträuchern an einer kleinen Muttergottesstatue über der Eingangstür hängenblieb. Als ich sah, dass Maria schon da war und auf uns wartete, um uns zu empfangen und das zu bestätigen, was wir im Herzen trugen, wurde meine Freude noch viel größer.
Das Haus hatte einige Jahre leer gestanden, und als wir ankamen, fanden wir vor, was man in einem verlassenen Haus eben vorfindet: Gestrüpp, wilde Sträucher, kaputte Türen, Fenster ohne Scheiben … Meine Begleiter »rauften sich die Haare«, als sie diesen trostlosen und verwahrlosten Ort sahen; es war, als wollten sie sagen: »Wie soll man hier bloß leben?«
Doch vor meinem inneren Auge sah ich das Haus bereits wieder schön hergerichtet, voller junger Menschen, voller wahrer Freude und Freiheit – so wie es heute ist.
Bei mir waren Nives, eine Lehrerin, die ich während meines ersten Aufenthalts in Saluzzo kennengelernt hatte, und Schwester Aurelia aus meinem Orden, die darum gebeten hatte, mit mir gehen zu dürfen.
Wir machten uns ans Werk: mit der Glut, Kraft und Schönheit der Liebe.
Das Aufräumen, die ersten Arbeiten, der Wiederaufbau … all das war von großer Begeisterung, von Kraft und Freude getragen.
Wir arbeiteten Tag und Nacht und trotzdem fürchtete ich mich keinen Augenblick lang vor dem Opfer, und nie kam mir das, was wir da taten, schwer oder mühsam vor.
Es stimmt: Wir hatten nichts, schliefen auf dem Boden, die kaputten Fensterläden des Hauses dienten uns als Bänke und Tische, es gab sonst nichts … und doch war da so viel mehr! Denn wenn nichts da ist, gibt es »mehr«: mehr Solidarität, mehr Liebe, mehr Lächeln, manchmal auch mehr Tränen, aber das macht nichts. Das Leben ist so, es besteht aus Licht und Schatten, Mut und Angst, Stärke und Schwäche.
Doch die Liebe war unter uns lebendig und wieder einmal war sie stärker als die Not, die Angst oder das Scheitern.
Viele fragten mich damals, was ich verwirklichen wollte, welche Idee ich im Kopf hätte. Sie sagten zu mir: »Elvira, du brauchst ein Programm! Du musst erklären, was du tun, was du erreichen willst und was du dazu brauchst.« Doch ich wusste nicht einmal, was eigentlich ein »Programm« ist; es gab nicht »meine Idee«. In jener ersten Zeit gab es so viel zu tun, dass ich tatsächlich über nichts nachdachte: Ich hatte gar keine Zeit dazu. Ich erinnere mich nicht daran, irgendetwas geplant zu haben, nicht im Kopf und schon gar nicht auf dem Papier und auch nicht unter Zeitdruck. Vielmehr war ich in meinem Herzen fest davon überzeugt, dass Er, der mich gerufen hatte und mich all das erleben ließ, mir auch Tag für Tag den nächsten Schritt zeigen würde.
Es hätte auch ein Fehlschlag werden können, doch damals habe ich nie an diese Möglichkeit gedacht, denn in mir war die Kraft einer Liebe, die keine bloß menschliche Liebe war; es war auch nicht nur meine eigene Liebe. Ich wusste nicht einmal, ob ich überhaupt fähig sein würde zu lieben, doch in mir war ein Mut, der nicht nur mein eigener war, eine große Bereitschaft, etwas zu riskieren, über das Unmittelbare hinauszusehen und jedem Rückschlag zum Trotz einfach weiterzumachen.
Heute weiß ich: Es war die Liebe Gottes, die meinen Willen, meine Freiheit, meine Kraft und meine Schwäche durchdrungen hatte. Damals habe ich gewissermaßen meinen Glauben wiederentdeckt: Ich habe einen konkreten, »Fleisch gewordenen«, einen tätigen und risikobereiten Glauben gefunden.
Endlich war Gottes »Stunde« gekommen: Das Tor hatte sich geöffnet, und mein Inneres hatte vor Freude getanzt. Jetzt würden wir Schritt für Schritt voller Staunen entdecken, wie Gott uns weiter führte.
Der Name »Cenacolo« war nicht meine Idee.
Für eine kurze Zeit war ein Priester bei uns gewesen, der gekommen war, um mit den Jugendlichen mit zu leben. Er schlug diesen Namen vor, und ich nahm seinen Vorschlag an, denn ich war immer offen für die Ratschläge, die andere mir gaben. Ich wollte schließlich das tun, was der Herr wollte!
Ich hatte mir gewünscht, dass Maria auf jeden Fall dabei sein sollte, und das Wort Cenacolo (»Abendmahlssaal«) ließ mich sofort an die Kirche denken, an die Apostel, die sich nach dem Tod Jesu voller Angst gemeinsam mit Maria im Abendmahlssaal eingeschlossen hatten. Doch dann beginnen sie, mit ihr zusammen zu beten. Der Heilige Geist kommt auf sie herab, und die Apostel werden zu mutigen Zeugen. Die Tür, die sie aus Angst verschlossen hatten, öffnet sich für das mutige, freie und freudige Bekenntnis.
Heute glaube ich, dass dieser Name eine Prophezeiung war: Nichts hätte das, was wir sein wollten, besser zum Ausdruck bringen können. Auch die Jugendlichen, die zu uns kommen, haben viele Ängste, sind verschlossen und verstummt in ihrem Denken und Sprechen und tragen oft eine große Traurigkeit, Einsamkeit und Herzensunruhe in sich. Doch Maria holt sie zu sich und bringt sie hierher, wo wir gemeinsam mit ihr beten. Der Heilige Geist kommt herab und macht die Jugendlichen nach und nach zu neuen Menschen, zu freien und mutigen Zeugen der Auferstehung.
Im Laufe der Jahre ist unser Mutterhaus dank der Arbeit der jungen Leute und der Hilfe vieler Freunde renoviert worden und erstrahlt heute in neuem Glanz. Danach sind viele weitere Häuser entstanden, doch das Abenteuer des Wiederaufbaus, das wir damals begonnen haben, ist noch lange nicht beendet. Die Gemeinschaft ist gewissermaßen eine »Baustelle des Lebens«, auf der unablässig gearbeitet wird.
Alle Tage staunen wir, jeder Tag ist ein Wunder.
Heute sehen wir dieses Wunder auf den Gesichtern der der jungen Menschen: Ihr Lächeln lässt uns staunen, ihre leuchtenden Augen, ihre Freude und Kraft und auch die Ausdauer, in einer Gemeinschaft sein zu wollen, die sich als »anspruchsvoll« definiert. Ja, anspruchsvoll!
Unsere Liebe ist ohne Bedingungen und Erwartungen; doch sie baut auf der festen Überzeugung auf, dass in den jungen Menschen, auch wenn sie versagt haben, ein bislang unentdecktes Kapital steckt. Wir akzeptieren sie so, wie sie sind. Wir nehmen sie auf, um sie in ihrer heutigen Bedürftigkeit zu lieben, ohne an das Morgen zu denken. Doch gleichzeitig sollen sie lernen und begreifen, dass sie ein Morgen, eine Zukunft haben; dass sie ihr Leben wieder aufbauen können, wenn sie die Dinge mit Liebe, Leidenschaft und Entschiedenheit tun. Deshalb sind wir anspruchsvoll, gerade weil wir sie lieben. Es ist eine Liebe, die ihnen ihre Würde zurückgeben will. Denn sie sind weder alt noch krank, noch haben sie eine körperliche Behinderung. Es sind junge Menschen, die vom Weg abgekommen sind, die aber ein Recht darauf haben, ihn wiederzufinden indem sie den Wert ihres Lebens wiederentdecken: In ihnen steckt ein reicher Schatz des Guten, des Willens, der Kraft und der Liebe, den sie entdecken sollen und an den sie glauben müssen.
Wir haben in einem Haus angefangen, das baufällig und verwahrlost war wie das Leben vieler Jugendlicher, die dann an unsere Türen geklopft haben.
Die jungen Menschen haben mit den Mauern gleichzeitig ihren Willen, ihr Selbstvertrauen, ihre Zukunft und ihre Freundschaft wieder aufgebaut.
Ich habe zu den Jugendlichen gesagt: »Hier bezahlt niemand für euch! Ihr selbst müsst euer Leben neu aufbauen, indem ihr die Ärmel hochkrempelt und euch anstrengt und so Schritt für Schritt, Stein auf Stein entdeckt, dass die Kraft und die Würde eines neuen Lebens in euch stecken.«
Und sie haben meinen Worten geglaubt.
„Wir sind in einem verwahrlosten Haus geboren, ohne irgendeine finanzielle Sicherheit: Alles ist Gottes Werk und die Frucht der Bemühungen vieler Brüder und Schwestern. Wir denken oft an unsere Anfänge zurück, die arm waren, aber schön, und reich an Glauben, Opfer, Freude und lebendigem Gebet.“ (Aus der Lebensregel der Gemeinschaft Cenacolo)