MUTTER ELVIRA (1937-2023) – Ein kurzes Porträt
Mitte der 70er Jahre. Mutter Elvira war knapp 40 Jahre alt und wirkte bereits zwanzig Jahre im Orden der Barmherzigen Schwestern der hl. Johanna Antida Thouret, als sich in ihrem Herzen ein Feuer entzündete, das sie selbst im Buch Die Umarmung (S.25f.) so beschreibt:
„In mir begann ein Feuer zu brennen, und ich spürte immer stärker den drängenden Wunsch, etwas für die Jugendlichen zu tun, insbesondere für diejenigen, die nach dem Sinn ihres Lebens suchten. Ich sah sie durch die Straßen ziehen und auf den Plätzen herumlungern, gefangen in der Betäubung durch die Drogen. Ihre Verzweiflung, ihr tägliches Sterben klangen mir in den Ohren wie ein gellender Schrei nach Leben und Wahrheit. Sie wollten wissen, ob die Liebe wirklich existiert, ob es Hoffnung gibt, ob es wirklich möglich ist, in innerem Frieden zu leben, ob ihre Geschichte neu geschrieben, ihr Leben neu aufgebaut werden konnte, ob sie es schaffen würden, einen neuen Anfang zu machen.
All das las ich in den Gesichtern und in den falschen Entscheidungen dieser jungen Menschen. Ich sah sie »ohne Hirten«, ohne Orientierung, am Rand eines Abgrunds. Obwohl sie alles hatten – die Taschen voller Geld, Autos, Bildung, alles, was man ihnen an Materiellem hatte geben können ‒, waren sie dennoch traurig und tot in ihren Herzen. Wenn ich vor dem Allerheiligsten betete, war mir als hörte ich ihren Schmerzensschrei und ich spürte ihre Hilfsbedürftigkeit am eigenen Leibe. Ich fühlte einen Drang in mir, den ich nicht unterdrücken konnte und der immer stärker wurde. Es war nicht irgendeine Idee, ich wusste ja nicht einmal selbst, was da geschah, aber ich spürte, dass Gott mir etwas für diese Jugendlichen ins Herz gelegt hatte, das ich ihnen geben sollte.“
Mutter Elvira wurde als Rita Agnese Petrozzi am 21. Januar 1937 in Sora in der italienischen Region Latium geboren. Die Familie mit acht Kindern war arm und zog während des Krieges nach Alessandria in der Lombardei. Der Vater kämpfte mit Arbeitslosigkeit und Alkohol und die Mutter, eine tatkräftige, gläubige Frau, brachte die Familie durch die Not der Nachkriegszeit. Die junge Rita wurde von der Charakterstärke der Mutter geprägt, vom Vater in seiner Schwäche lernte sie, vor anderen nicht wegzulaufen oder sie zu verurteilen, sondern ihnen beizustehen. Am 8. März 1956 trat Rita Agnese als Schwester Elvira bei den Barmherzigen Schwestern der hl. Johanna Antida Thouret in Borgaro Torinese ein, wo sie 27 Jahre lang von ganzem Herzen ihre Berufung lebte, für die Armen da zu sein.
Dann begann in ihrem Herzen das ganz Neue, der Wunsch, den verlorenen Jugendlichen auf den Straßen zu helfen. Im Gebet erkannte sie darin einen neuen Ruf Gottes. So bat sie ihre Oberinnen um Erlaubnis für eine Initiative. Diese zögerten, sie sahen die Schwester, die wegen der Armut ihrer Familie nicht einmal ihre Schulbildung hatte abschließen können, als nicht ausreichend qualifiziert für ein solches Projekt an. Schwester Elvira akzeptierte, trug aber ihren Wunsch weiter vor Gott.
Nach Jahren des Gebets im Vertrauen auf die gütige Vorsehung Gottes erkannten die Oberen ihre Treue und Geduld und gaben ihr eine Chance. Die Stadt Saluzzo stellte ihr eine leerstehende alte Villa auf dem Hügel der Stadt zur Verfügung. Das Haus war eine Ruine, eine echte Baustelle, wie das Leben der Jugendlichen, denen die Ordensschwester helfen wollte. Es fehlte buchstäblich an allem und Geld gab es auch nicht. Trotzdem begann Schwester Elvira am 16. Juli 1983, dem Fest der Madonna vom Berge Karmel, gemeinsam mit ihrer Mitschwester Aurelia und der Lehrerin Nives Grato das Werk voller Begeisterung: „Ich erinnere mich, dass ich in meinem Inneren gleichsam vor Freude getanzt habe. Plötzlich brach die Fülle des Lebens aus mir heraus, die Begeisterung und Freude nach der langen Zeit des Wartens. Endlich wurde aus der Sehnsucht Wirklichkeit. Es stimmt, wir hatten nichts und schliefen auf dem Boden. Die kaputten Fensterläden des Hauses dienten uns als Bänke und Tische. Es gab sonst nichts…, doch die Liebe war unter uns lebendig und wieder einmal war sie stärker als die Not, die Angst oder das Scheitern.“ (Die Umarmung, 33ff.).
Schon nach wenigen Tagen kamen die ersten Jugendlichen: Drogenabhängige voller Zorn und Traurigkeit, die Hilfe suchten. Sie blieben, weil sie merkten, dass diese Schwester Elvira ihnen helfen konnte. Sie fassten Vertrauen, packten mit an und begannen sich sogar für das Gebet der Schwestern zu interessieren. Langsam bekam das Projekt Profil und sprach sich herum, bis schließlich das ganze Haus, das heutige „Casa Madre“ (Mutterhaus) voll war: 50 Jugendliche arbeiteten gemeinsam mit Schwester Elvira daran, ihr Leben zu ändern.
Das Charisma Elviras, ihre Gabe, verletzte junge Menschen in Freundschaft zu begleiten, ihnen ins Herz zu schauen und mit Worten voller Kraft den Weg zu einem neuen Leben aufzuzeigen, wurde immer sichtbarer. Nach fünf Jahren wurde ein zweites Haus eröffnet, dann ein drittes, ein viertes und schließlich 1991 in Medjugorje das erste Haus außerhalb Italiens, dem viele weitere folgten.
Cenacolo wurde zu einer internationalen Gemeinschaft und Schwester Elvira wurde als Mutter Elvira bekannt. Ihre Lebensfreude und ihre Liebe zu den Menschen und zur Kirche wirkte ansteckend. Junge und Alte, Gläubige und Zweifelnde, Familien und Gottgeweihte ließen sich von ihr inspirieren. Oft wurde sie eingeladen, Glaubens- und Lebensimpulse für junge Menschen zu geben. Mitreißend waren ihre Katechesen bei den Jugendfestivals in Medjugorje oder ihre Impulse bei der Wiener Stadtmission im Mai 2003, zu der sie Kardinal Christoph Schönborn eingeladen hatte. 2008 sprach sie bei einem Kongress zur Göttlichen Barmherzigkeit im Vatikan vor zahlreichen Kardinälen und Bischöfen. In der ständig größer werdenden Gemeinschaft begleitete sie unermüdlich alle Häuser, seit 1993 auch die Gründungen für Frauen und Mädchen. Oft war sie auch in Österreich. Dabei schonte sie sich nie, selbst als nach 2010 erste Anzeichen von Erschöpfung und Krankheit sichtbar wurden. Schließlich aber musste sie sich zurückziehen und lebte seit einigen Jahren im Noviziatshaus unserer Missionarinnen der Auferstehung, wo sie zuletzt von den Schwestern rund um die Uhr liebevoll betreut wurde.
Mutter Elvira hat aus Liebe zu den verlorenen Jugendlichen am Rand der Gesellschaft 1983 unsere Gemeinschaft Cenacolo gegründet, sie viele Jahre geleitet und sich für uns verbraucht. Von Krankheit und Alter gezeichnet ging sie uns weiter voran und gab ein ermutigendes Beispiel von Gottvertrauen, Liebe und Tapferkeit. Kurz vor dem diesjährigen Fest des Lebens im Juli verschlechterte sich dann aber ihr Gesundheitszustand rapide, so dass die Ärzte bereits während des Festes mit ihrem Ableben rechneten. Das Gebet der ganzen Gemeinschaft und vieler Freunde in der ganzen Welt half ihr aber, sich noch einmal zu stabilisieren und die Gemeinschaft erkannte ihren Herzenswunsch, der ganzen großen Cenacolo-Familie noch einmal zu begegnen. So öffneten sich die Tore ihres Krankenzimmers und zwei Wochen lang zog täglich ein langer Strom von Cenacolo-Burschen und Mädchen, von Ehemaligen, Freunden und Familien an ihr vorbei, um für sie zu beten und ihr zu danken, ihr über das Haar zu streichen oder ihr die Hände zu streicheln und ihr noch einmal in die Augen zu schauen, die ganz wach waren. Jeden Abend versammelten sich viele unter dem Balkon ihres Krankenzimmers, um in Stille für sie zu beten, und fast schien es, als würde sie noch einmal Kraft gewinnen. Als aber der Strom der Besucher langsam zu Ende ging, der ihr große Freude gemacht hatte, kam die Stunde des Abschieds. Im Beisein von Padre Stefano und den Cenacolo-Ordensschwestern ist Mutter Elvira in der Nacht zum 3. August 2023 friedlich und mit weit geöffneten Augen zum Vater im Himmel heimgekehrt, nachdem alle Anwesenden ein letztes „Salve Regina“ gebetet hatten.
Mutter Elvira wird uns sehr, sehr fehlen, aber sie wird stets präsent bleiben in unserem Leben und vom Himmel aus für die ganze Gemeinschaft weiterwirken. Ihr Leben und ihr Werk werden weiter Früchte bringen und für Überraschungen des Heiligen Geistes sorgen. Mehr als je zuvor fühlen wir uns mit ihr verbunden und wollen mithelfen, dass sich der Traum Gottes ganz verwirklicht, der in ihrem Leben sichtbar geworden ist.
Danke, Jesus, für das Leben, den Glauben und die Liebe unserer Mutter Elvira!!!